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Hugo Sinzheimer (1875–1945), der als Vater des deutschen Arbeitsrechts gilt, prägte mit seinen innovativen Ideen maßgeblich die Arbeitsrechtswissenschaft in der Weimarer Republik. Seine Konzeption des kollektivrechtlichen Tarifvertrags legte den Grundstein für eine autonome sozialrechtliche Ordnung und beeinflusste die internationale Entwicklung des Arbeitsrechts. Als Sozialdemokrat und Mitglied der Weimarer Nationalversammlung trug er zudem entscheidend zum Grundrechtekatalog und zum Räteartikel der Weimarer Verfassung bei. Seine politische Karriere endete frühzeitig aufgrund politischer Differenzen und antisemitischer Hetze, und er verbrachte die letzten Jahre seines Lebens im niederländischen Exil.
Hören Sie den Eintrag zu Hugo Sinzheimer auch als Hörbuch. (Hörzeit 9:36 Minuten)
Hugo Sinzheimer (* 12.4.1875 · † 16.9.1945) war ein bedeutender Rechtswissenschaftler und sozialdemokratischer Rechtspolitiker in der Weimarer Republik. Er gilt als Hauptbegründer der Arbeitsrechtswissenschaft in Deutschland, dessen Konzeption des kollektivrechtlichen Tarifvertrags als Grundlage einer autonomen sozialrechtlichen Ordnung auch jenseits der deutschen Grenzen nachhaltige Wirkung entfaltete. Sinzheimers Vorstellungen vom Arbeitsrecht waren eingebettet in weitergehende Ideen des sozialen Parlamentarismus und der Wirtschaftsdemokratie.
Sinzheimer wurde 1875 in Worms in eine wohlhabende jüdische Fabrikantenfamilie hineingeboren. Nach dem Abitur und einer abgebrochenen Kaufmannslehre absolvierte er ein Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie. 1901 wurde er in Heidelberg promoviert, zwei Jahre später ließ er sich in Frankfurt am Main als Anwalt nieder. Daneben setzte Sinzheimer seine bereits im Studium begonnene intensive Beschäftigung mit der damals noch jungen Wissenschaft des Arbeitsrechts fort, die in die Veröffentlichung seiner rechtspolitischen Grundlagenwerke über das Arbeitstarifgesetz (Sinzheimer 1916) und Arbeitsrecht (Sinzheimer 1921) mündete.
Neben die berufliche und wissenschaftliche Tätigkeit trat sein politisches Wirken (Kubo 1995: 63 ff.). 1914 schloss sich Sinzheimer der SPD an. Seit 1917 Mitglied des Frankfurter Stadtparlaments, amtierte er während der Novemberrevolution für kurze Zeit zugleich als provisorischer Polizeipräsident, bevor er 1919 als sozialdemokratischer Abgeordneter in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde. Als Berichterstatter des Verfassungsausschusses hatte er dort maßgeblichen Einfluss auf den Grundrechtekatalog und die Ausgestaltung des sogenannten »Räteartikels« 165 der Weimarer Reichsverfassung (Albrecht 1970). Sinzheimers politische Karriere endete, nachdem ihn die Fraktion nicht wie von ihm erhofft zum Arbeitsminister machen wollte. Überdies war er wegen seines mutigen Auftretens in der Kriegsschuldfrage zu einer Zielscheibe der deutschnationalen und antisemitischen Hasspropaganda geworden. Trotz seiner Verbitterung blieb Sinzheimer – auch in der zweiten Reihe – engagiert. Er wurde mehrfach zum Schlichter in Tarifkonflikten bestellt, für den ADGB half er, dessen Grundsatzprogramm auszuarbeiten und in der SPD war er Mitinitiator des 1923 gegründeten Hofgeismarer Kreises, einer gewerkschaftsnahen Gruppierung des rechten Parteiflügels.
1920 zum »ordentlichen Honorarprofessor« für Arbeitsrecht und Rechtssoziologie der Frankfurter Universität berufen, stand das Arbeitsrecht während der Weimarer Zeit weiterhin im Zentrum von Sinzheimers wissenschaftlicher Tätigkeit, die er neben seinem Anwaltsberuf ausübte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam Sinzheimer vorübergehend in »Schutzhaft«, anschließend setzte er sich in die Niederlande ab. Dort konnte er dank seiner gewerkschaftlichen Verbindungen zunächst in Amsterdam und ab 1936 in Leiden eine außerordentliche Professur für Rechtssoziologie bekleiden, die neben Arbeiten zur Rechtstheorie fortan den Schwerpunkt seiner Forschungen bildete. 1937 aus Deutschland ausgebürgert, wurde Sinzheimer nach der deutschen Besetzung der Niederlande zweimal inhaftiert. Bei der zweiten Verhaftung entging er nur knapp dem Abtransport in ein Konzentrationslager. Die letzten Jahre des Exils verbrachte er in wechselnden Verstecken. Am 16. September 1945 starb Sinzheimer an den Folgen seiner völligen körperlichen Auszehrung.
Vom Humanismus und dem Ideal der menschlichen Freiheit zutiefst durchdrungen, ging es Sinzheimer vor allem darum, das Arbeitsrecht aus den bis dato vorherrschenden zivil- und eigentumsrechtlichen Bezügen herauszulösen. Am Ausgangspunkt steht dabei die Unterscheidung zwischen Sache und Person, die eine spezielle Abhängigkeit der Arbeiter von den Unternehmen begründe (Rottleuthner 1986: 233 ff.). Ziel seiner Analysen war die Überwindung des Widerspruchs zwischen der abstrakten Gleichheit in der Rechtsordnung und der den wirtschaftlichen Verhältnissen geschuldeten realen Ungleichheit in der Sozialordnung. Dazu müsse es den frei organisierten Kräften in der Gesellschaft erlaubt sein, innerhalb des staatlichen Rahmens selbstständig Recht zu schaffen und zu verwalten. »Wir nennen diesen Gedanken die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht« (Sinzheimer 1916: 186).
Die autonome Rechtsetzung durch die Tarifpartner schuf die Basis für die Abtrennung der normativen, obligatorischen und organisatorischen Funktionen des Tarifvertrags, die seither zum »Gemeingut der kontinental-europäischen Rechtssysteme geworden ist« (Kahn-Freund 1976: 10). Laut Kahn-Freund (ebd.: 3 ff.) war dieser Ansatz in mindestens dreierlei Hinsicht bahnbrechend. Erstens betrachtete er den Tarifvertrag wie das gesamte Arbeits- und Sozialrecht als Rechtsgebiet eigener Art, auf dem sich privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Elemente verquickten. Dass Sinzheimer dem öffentlich-rechtlichen Charakter dabei im Zweifel Vorrang einräumte, zeigte unter anderem sein Eintreten für eine staatliche Zwangsschlichtung. Zweitens postulierte er, dass der Staat zwar den gesetzlichen Rahmen für die soziale Selbstbestimmung herstellen, ansonsten aber den frei organisierten Kräften bei der autonomen Rechtsetzung größtmöglichen Raum gewähren müsse. Dies fand zum Beispiel in der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge Niederschlag. Und drittens ordnete Sinzheimer die Einzelwillen dem Gruppenwillen der Verbände unter, die als Urheber auch die geborenen »Hüter« der Normen seien und denen es deshalb alleine zukomme, diese bei Nichtbefolgung zu sanktionieren.
Sinzheimers Vorstellungen fanden in die gesetzliche Normierung des Tarifrechts in der Weimarer Republik Eingang und dienten in der Folge auch vielen anderen Ländern als Vorbild. Die paritätische Regelung der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen stellte für ihn allerdings nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einer umfassenderen Wirtschaftsdemokratie dar, in der die Arbeiter an der Leitung der Produktion beteiligt werden würden (Fraenkel 1974: 95 ff.). Als Träger der Mitbestimmung sollten die auf bezirklicher und Reichsebene einzurichtenden Arbeits- und Wirtschaftsräte den bestehenden Parlamentarismus zu einem sozialen Parlamentarismus erweitern – langfristig sogar europaweit (Sinzheimer 1976a [1925]: 225). Der von Sinzheimer maßgeblich geprägte Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung blieb aber im Wesentlichen ein Programmsatz. Dass er keine praktische Relevanz erlangte, lag zum einen an seiner Verbannung in den Grundrechtsteil, zum anderen herrschte (auch bei Sinzheimer) eine gewisse Unklarheit, welche genauen Funktionen den Räten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugedacht war (Sinzheimer 1976a [1919b]). Verwirklichung fand nur der Unterbau des Systems durch das 1920 erlassene Betriebsrätegesetz. Die gesetzliche Regelung der Wirtschaftsräte wurde dagegen gar nicht erst in Angriff genommen bzw. kam über vereinzelte Bestrebungen auf der Länderebene nicht hinaus (Albrecht 1970: 148 ff.).
Sinzheimer hat mit Ernst Fraenkel (1898–1975), Otto Freund-Kahn (1900–1979), Franz Neumann (1900–1954) und Hans Morgenthau (1904–1980) namhafte Schüler hervorgebracht. Alle drei teilten Sinzheimers Grundkonzeption des Tarifvertrags, setzten sich aber von dessen Vorstellung einer langfristigen Überwindung des »kollektiven Liberalismus« ab, die ihn dazu geführt hätten, sein eigenes Modell unnötig zu relativieren (Blanke 2005). Mit Blick auf die von Sinzheimer befürwortete Organisationspflicht und dessen Festhalten am öffentlich-rechtlichen Charakter der Verbände sprach Kahn-Freund (1976: 18) sogar von einer »Verirrung«. Den enormen Beitrag, den Sinzheimers Werk für die rechtliche Entwicklung der Arbeitsbeziehungen und Herausbildung eines autonomen Verbandswesens geleistet hat, kann das allerdings nicht schmälern.
Nur geringe Spuren haben dagegen Sinzheimers Vorstellungen einer demokratischen Gemeinwirtschaft hinterlassen. Als Pluralist gehörte Sinzheimer zum reformistischen, nicht marxistischen Flügel der SPD (Fraenkel 1974: 97). Seine Idee der »sozialen Selbstbestimmung im Recht« kam aber über das vermeintliche Übergangsstadium des Tarifvertragssystems nie wirklich hinaus. Das Betriebsverfassungsgesetz der heutigen Bundesrepublik ist zwar fortschrittlicher als das der Weimarer Republik. Ihre Mitbestimmungsgesetzgebung dürfte jedoch weit von dem entfernt sein, was Sinzheimer mit der von ihm projektierten »Wirtschaftsverfassung« im Sinn gehabt hat (Kahn-Freund 1976: 18 f.). Im Zuge der Globalisierung geraten nun selbst diese Errungenschaften unter immer stärkeren Druck.