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Hermann Cohen

Kant ist der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus […]: ›Mache Dir die Selbstgesetzgebung in der Person eines jeden Menschen zum Zwecke‹. Hermann Cohen

Kurzbiografie

Hermann Cohen (1842-1918), Philosoph und Mitbegründer des Neukantianismus, beeinflusste mit seiner Neuinterpretation Kants wesentlich die deutsche Sozialdemokratie. Cohen, der in Halle promovierte und später in Berlin lehrte, sah in Kant den eigentlichen Begründer des Sozialismus. Er entwickelte einen ethischen Sozialismus, der auf der kantischen Ethik basiert, und plädierte für eine Gesellschaft, die jedem Menschen als Zweck an sich gerecht wird. Sein Prinzip der Genossenschaftlichkeit zielte auf die gleichberechtigte Teilhabe aller an gesellschaftlichen Entscheidungen ab und prägte die Entwicklung des demokratischen Sozialismus und der Sozialen Demokratie.

Hörbuch

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Hermann Cohen und das Prinzip der Genossenschaftlichkeit

von Thomas Meyer

Biografische Skizze

Cohen (* 4.7.1842 · † 4.4.1918) wurde als Sohn des Lehrers und Kantors Gerson Cohen in Coswig, Sachsen geboren und starb in Berlin. Er besuchte das Gymnasium und das Jüdisch-Theologische Seminar in Dessau. Dort begann er auch sein Studium der jüdischen Religion und Philosophie, das er in Berlin fortsetzte. Er wurde 1865 in Halle zum Dr. phil. promoviert. Durch seine Neuinterpretation Kants gilt er als einer der Begründer des Neukantianismus.

Mit seinem großes Aufsehen erregendem Nachwort zur Neuausgabe der Schrift von F. A. Lange Geschichte des Materialismus im Jahre 1896 kam er vorübergehend in einen intensiven und höchst folgenreichen Kontakt mit der deutschen Sozialdemokratie, indem er nachzuweisen versuchte, dass Immanuel Kant der eigentliche Begründer des Sozialismus gewesen sei. Wenig später nahm er die Position eines Lehrenden an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin an und widmete sich fortan Studien zur Kultur und Religion des Judentums. Auch auf diesem Gebiet trat er mit einer Reihe stark beachteter Werke hervor.

 

Kant als Begründer des Sozialismus

Der wesentliche und fortwirkende Beitrag Hermann Cohens zur Entwicklung von Theorie und Praxis des deutschen und des internationalen demokratischen Sozialismus ist in dessen revolutionärer Neufundierung in der kantischen Ethik zu sehen. Cohen wollte zeigen, dass Kants universalistischer Anspruch erst in einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft erfüllt werden kann. Zusammen mit Karl Vorländer und Leonard Nelson (S. 256-262), die das gleiche Projekt mit jeweils eigenständigen, aber ebenfalls kantianischen Denkansätzen verfolgten, gelang es ihm, die neue und bald zu beträchtlichem Einfluss gelangende Strömung eines »ethischen Sozialismus« neben dem dominanten Marxismus in der Sozialdemokratie zu verankern.

Diesen Linkskantianern war die Begründung eines durchaus radikal verstandenen demokratischen Sozialismus aus dem Geist der kantischen Ethik und ihres zentralen kategorischen Imperativs gemeinsam, jeden Menschen stets als einen Zweck zu achten und niemals nur als Mittel für die Zwecke anderer zu missbrauchen. Daraus ergaben sich unmittelbar die Kritik am Kapitalismus und die Leitidee für dessen sozialistische Umgestaltung. Cohen führte exemplarisch vor, was es heißt, dieses Moralgesetz und eine darauf begründete Idee des Vernunftrechts konsequent auf die Verfassung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft anzuwenden. Er machte darauf aufmerksam, dass mit dieser Begründung der Sozialismus in Wahrheit tief in der deutschen Kultur verwurzelt sei.

Die mit Cohen einsetzende liberal-sozialistische Lektüre Kants war insbesondere um die Unterscheidung des universalistisch Gültigen vom historisch Partikulären und Kontingenten in dessen Moral- und Rechtsphilosophie bemüht. Cohen vollzog auf der Ebene der politischen Philosophie einen bleibend wirksamen Brückenschlag zwischen der abstrakten Forderung nach gleicher Freiheit in der Tradition des Liberalismus und dem demokratisch-sozialistischen Anspruch ihrer tatsächlichen Verwirklichung für alle durch eine grundlegende Neuorganisation der ganzen Gesellschaft. Denn in einer nach den Imperativen der kantischen Ethik rechtlich verfassten Gesellschaft wären keine einseitigen Abhängigkeitsverhältnisse mehr möglich. Der kantische Grundsatz, »keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können«, verbürgt die gleiche Autonomie aller Personen, angewandt auch auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die Ethik, nach der jeder Mensch ein absoluter Selbstzweck ist, verlangt die gleichberechtigte Teilhabe eines jeden an allen ihn betreffenden gesellschaftlichen Entscheidungen. Das ist die Bedeutung von Autonomie im Sinne der Sozialen Demokratie.

Cohens Ansatz basiert darauf, dass die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs bei Kant in ihrer logischen Konsequenz nicht weniger verlangt als einen Sozialismus auf der Grundlage eines für alle öffentliche Institutionen verbindlichen Rechtsprinzips der Genossenschaftlichkeit als gleichberechtigter Entscheidungsteilhabe der von den jeweiligen Entscheidungen Betroffenen. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem beruht aber gerade darauf, dass der größte Teil der Gesellschaft zum Mittel für die Gewinninteressen weniger degradiert wird. Die von Cohen gegebene klassischkantianische Begründung für die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus wurde zu einem in der sozialistischen Arbeiterbewegung einflussreichen Lehrsatz: »Der Arbeiter kann […] niemals bloß als Ware zu verrechnen sein, auch für die höheren Zwecke des angeblichen Nationalreichtums nicht, er muss ›jederzeit zugleich als Zweck‹ betrachtet und behandelt werden.« (Cohen 1986: o. S.)

Der kategorische Imperativ enthält, Cohen zufolge, in konsequenter Lesart eine eindeutige Anweisung für die Verfassung aller gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere auch der wirtschaftlichen. Keine soziale Institution, in der verbindlich über die Freiheit anderer entschieden wird, darf durch ein Entscheidungsverfahren gekennzeichnet sein, das von diesen Entscheidungen betroffene Personen von ihrem Zustandekommen ausschließt. Mithin entspreche allein ein liberaler Sozialismus, der neben den staatlichen auch alle wirtschaftlichen Institutionen und Organisationen nach dem genossenschaftlichen Rechtsprinzip der gleichen Entscheidungsteilhabe organisiert, der kantischen Moral- und Rechtslehre.

Dieser ethische Ansatz begründet den politischen Grundwert der »Genossenschaftlichkeit« als Prinzip der in der ganzen Gesellschaft gültigen gleichberechtigten Teilhabe. Er schließt eine überaus klare Unterscheidung zwischen dem imperativ geltenden Prinzip als eigentlichem Handlungszweck und den für seine Verwirklichung unter wechselnden Umständen infrage kommenden Mitteln ein. Er erlaubt auch eine reformerische, schrittweise Politik der Annäherung an das eigentliche, unbedingt gültige Ziel.

 

Unmittelbare Wirkung

Cohen hat mit diesem Paradigmenwechsel in der Begründung des Sozialismus eine Reihe bedeutender Zeitgenossen wesentlich beeinflusst, so unter anderem Karl Vorländer, Franz Staudinger, Kurt Eisner und indirekt auch Leonard Nelson. Zwei der von seinem Wirken ausgehenden Einfl üsse überragen aber alle anderen: die bleibende Grundlegung des ethischen Sozialismus als eine der wichtigsten geistig-politischen Grundströmungen in der Sozialdemokratie und die indirekte Mitwirkung an der Entstehung des sozialistischen Revisionismus in der Prägung von Eduard Bernstein (S. 60-66). Dieser begründete seine strategischen Reformismus im Gegensatz zu den Marxisten nicht mit einem historisch vorgegebenen Endziel und Gesetzen der Geschichte, sondern mit einem ethischen Prinzip, das der unabschließbaren Fortschrittsbewegung der Sozialdemokratie jederzeit verbindlich zugrunde liegen und alle Reformschritte leiten müsse: dem Cohen’schen Prinzip der Genossenschaftlichkeit. Dieses aber müsse in jedem der sozialistischen Reformschritte stets gegenwärtig und erkennbar sein und der sozialdemokratischen Bewegung Sinn und Richtung verleihen.

 

Heutige Bedeutung

Vor allem auf dem Weg über den später in der Sozialdemokratie dominant werdenden Bernstein’schen Reformismus reicht der langfristige Einfluss des Cohen’schen Sozialismusverständnisses bis ins Godesberger Programm und das moderne, heute prägende Verständnis von Sozialer Demokratie. Das von Bernstein in den politischen Diskurs eingeführt Cohen’sche Rechtsprinzip der Genossenschaftlichkeit wurde schrittweise zur Formel von der Demokratisierung aller Lebensbereiche weiterentwickelt, die vor allem von Willy Brandt (S. 67-72) zur Beschreibung der Begründung und der Ziele des »Demokratischen Sozialismus« herangezogen wurde. Ihr konzeptioneller Status ist freilich in den gegenwärtigen Diskursen der sozialen Demokratie neu überdacht worden. Die durch die zunehmende Komplexität der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufgeworfene Frage lautet heute eher, welche Form der Synthesis zwischen der Eigenlogik der gesellschaftlichen Funktionssysteme und dem Demokratieprinzip (»Prinzip der Genossenschaftlichkeit«) jeweils als gleichzeitig normativ gerechtfertigt und funktional angemessen begründet und damit auch tatsächlich als der angemessene Weg zu den erstrebten Zielen erwiesen werden kann.

In der politischen Philosophie und gleichermaßen in den relevanten politischen Diskursen der Gegenwart ist das Argument nicht mehr umstritten, dass der politische Liberalismus die unüberschreitbare Rahmenbedingung für jedes politische Projekt darstellt, das sein Gerechtigkeitsverständnis auf die politischen Grundwerte Freiheit und Gleichheit bezieht. Jenseits der unbedingten Geltung von Grundrechten, Demokratie und Pluralismus kann es gleiche Freiheit nicht geben. Aber dieser Rahmen muss durch eine demokratisierte Gesellschaft gefüllt werden. Auf der Ebene der politischen Philosophie und mehr noch in den ideologisch-politischen Alltagsdiskursen der Gegenwart überlappen sich die beiden auf Cohen zurückgehenden Traditionen des sozialen Liberalismus und des liberalen Sozialismus im Sinne von Sozialer Demokratie. Während die sozialliberale Tradition ihren Schwerpunkt auf die Ergänzung der Demokratie durch ein gewisses Maß sozialstaatlicher Absicherung setzt, geht es beim liberalen Sozialismus darüber hinaus um die Gewährleistung von autonomiesichernden Mitbestimmungsrechten in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen. Diese modernen Konzeptionen bleiben daher, direkt und indirekt, auf den kantischen Liberalismus, wie er von Cohen konzipiert wurde, in dreifacher Weise bezogen: erstens durch die Respektierung der Bedingungen und Grenzen der Freiheit eines jeden durch die Freiheit der anderen; zweitens durch die Vorrangstellung des Autonomieprinzips, auch in der Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung und drittens durch die Rückbindung der sozialen Interpretation des Prinzips der gleichen Freiheit an ihren kantischen Geltungssinn.

Kants ethisch-politische Theorie ist in ihrer Neuinterpretation durch Cohen und den Linkskantianismus zur Grundlage des Verständnisses von Freiheit und Gleichheit im Denken und Handeln der modernen Sozialen Demokratie geworden.


Werk

  • Cohen, Hermann (1896), Einleitung mit kritischem Nachtrag zu: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus, Iserlohn.

Literatur

  • Gerhardt, Volker (2002), Immanuel Kant. Vernunft und Leben. Stuttgart.
  • Meyer, Thomas (1978), Grundwerte und Wissenschaft im Demokratischen Sozialismus, Bonn.
  • Meyer, Thomas (2005), Kant und die Links-Kantianer, in: Gerhardt, Volker: Kant im Streit der Fakultäten, Berlin/New York.
  • Meyer, Thomas (2005), Theorie der Sozialen Demokratie, Wiesbaden.
    van der Linden, Harry (1988), Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis.
    van der Linden, Harry (1994), Cohens sozialistische Rekonstruktion der Ethik Kants, in: Holzhey, Helmut (Hg.): Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, Frankfurt a. M. 1994, S. 146 ff.
  • Schwarzschild, Steven S. (1956), The Democratic Socialism of Hermann Cohen, in: Hebrew Union College Annual/Jewish Institute of Religion: 27, 417-438.

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